Pressemitteilung Universitätsklinikum Heidelberg, 10. Juli 2003 Nr. 91/2003

Jedem Patienten sein eigener Impfstoff

Renaissance eines hundertjährigen Wirkprinzips: "Autovakzinen" helfen bei chronischen Infektionen / Europäischer Forschungsverbund gegründet

Die Behandlungserfolge waren verblüffend: Maßgeschneiderte Impfstoffe, die individuell für jeden Patienten aus "seinem" Erreger hergestellt worden waren, sogenannte Autovakzinen, waren in der Lage, schwere chronische Infektionen durch Bakterien zu heilen. Berichte über derartige Impferfolge erschienen bereits vor 100 Jahren in medizinischen Fachzeitschriften, Jahrzehnte bevor Antibiotika die Infektionstherapie eroberten - und schließlich die Autovakzinen verdrängten und weitgehend in Vergessenheit geraten ließen.

Doch jetzt steht ihnen möglicherweise eine Renaissance bevor. Wissenschaftler am Hygieneinstitut des Universitätsklinikums Heidelberg (Ärztlicher Direktor: Prof. Dr. Dr. Hans-Günther Sonntag) haben einen internationalen Forschungsverbund organisiert: Erstmals untersuchen Tier- und Humanmediziner, Mikrobiologen, Immunologen und Molekularbiologen aus ganz Europa gemeinsam die Wirksamkeit von Autovakzinen und anderer Verfahren, die echte Alternativen für Antibiotika sein könnten.

Totimpfstoff aus eigenem Erreger / In Osteuropa bei Furunkulose eingesetzt

Das Prinzip der Herstellung von Autovakzinen hat sich in den vergangenen 100 Jahren nicht verändert: Der Erreger wird aus dem Infektionsherd entnommen, angezüchtet und schonend abgetötet; der Totimpfstoff wird dem erkrankten Patienten per Injektion wieder verabreicht. Aus der westlichen Humanmedizin hat sich die Autovakzinierung fast vollständig verabschiedet. Regelmäßig wird sie nur noch in osteuropäischen Ländern praktiziert, überwiegend zur Behandlung von Infektionen mit dem Bakterium Staphylococcus aureus, das u.a. schwere chronische Hautinfektionen hervorrufen kann, etwa eine Furunkulose. Aufgrund positiver Berichte aus OstEuropa sowie eigener Erfahrungen aus der Behandlung von weit über 100 Patienten hat sich das Heidelberger Wissenschaftlerteam unter der Leitung von Dr. Oliver Nolte zum Ziel gesetzt, die Autovakzine sowie andere Formen der therapeutischen Impfung gegen bakterielle Infekte wissenschaftlich zu untersuchen.

"Herkömmliche Impfstoffe, etwa gegen Masern- oder Grippeviren, enthalten abgetötete Erreger oder deren Bestandteile und werden in Massenproduktion hergestellt", erklärt Dr. Oliver Nolte, Wissenschaftler am Hygiene-Institut des Universitätsklinikums Heidelberg. Der Körper reagiert auf die Impfung, das Immunsystem baut Abwehrkräfte gegen den Erreger auf. Die klassischen Impfungen dienen der Vorbeugung von Infektionen. Individuelle Autovakzinen kommen dagegen zum Einsatz, wenn eine chronische Infektion nicht beherrschbar ist. Das Immunsystem wird gezielt gegen den auslösenden Erreger sensibilisiert, und kann bestehenden Infektionen, z. B. als Furunkel, Abszesse oder eitrige Pickel, positiv beeinflussen bzw. weitere Infektionen verhindern. Der genaue Mechanismus dieser Immunreaktion ist unbekannt und soll durch Arbeiten des neuen Forschungsverbundes geklärt werden.

Alarmierende Resistenz gegen Antibiotika stimuliert Suche nach Alternativen

Ein Vorteil der Autovakzine gegenüber Antibiotika: Nebenwirkungen wie Übelkeit oder Magen-Darm-Beschwerden treten in der Regel nicht auf. Ihr Einsatz in der Veterinärmedizin, der bereits bei schwer beherrschbaren Infektionen praktiziert wird, bringt einen weiteren Vorteil. Da auf Antibiotika verzichtet werden könnte, würde das Risiko der gefürchteten Ausbildung von Resistenzen gesenkt, eine höhere Lebensmittelsicherheit wäre gewährleistet. "Vor allem der Erreger Staphylococcus aureus, der u. a. eitrige Hautinfekte hervorruft, aber auch einige andere bakterielle Erreger haben in den letzten Jahren eine weitreichende Ausstattung an Resistenzen erworben," erklärt Dr. Nolte.

Die wachsende Widerstandsfähigkeit von Keimen, ausgelöst durch falschen Gebrauch von Antibiotika, hat die Autovakzinen erneut ins Gespräch gebracht hat. Vor allem im Krankenhausbereich werden erhebliche Anstrengungen unternommen, die Verbreitung des "multiresistenten" Staphylococcus aureus (MRSA) zu verhindern. Im vergangenen Jahr wurden in den USA erstmals zwei Stämme gefunden, die gegen sämtliche verfügbaren Mittel, sogar den Rettungsanker Vancomycin resistent sind.

Angesichts dieser Bedrohung wird die Nachfrage nach alternativen Behandlungsformen immer größer. Deshalb hat die Europäische Union die Erarbeitung neuer Ansätze zur Infektionsbekämpfung in ihr sechstes Forschungsrahmenprogramm aufgenommen und plant eine Ausschreibung für Projekte zum Thema "Novel approaches to treat infections through non-antimicrobial based therapies" innerhalb ihres sechsten Forschungsrahmenprogramms.

Alternative Behandlung von Wundinfekten mit Maden und Eigenblut-Spritzen

Welche weiteren alternativen Verfahren, die nicht auf Antibiotika-Therapie beruhen, werden zwar bereits praktiziert, sind aber wissenschaftlich bislang nur spärlich untermauert? Chronisch infizierte Wunden können beispielsweise mit einer "Madentherapie" behandelt werden: Die Maden setzen Verdauungssekret frei, mit dessen Hilfe sie entzündetes und abgestorbenes Gewebe aus der Wunde saugen können. Es besteht aus mehr als 1.000 Proteinen und wirkt keimtötend. Ein weiterer vielversprechender Ansatz ist die Eigenbluttherapie, bei der eigenes Blut in den chronisch infizierten Wundbereich gespritzt wird. Nährstoffe und immunologischen Wirkstoffe scheinen einen heilungsfördernden Reiz auszulösen, so dass in den Geweben entzündliche Immunreaktionen auftreten und eine Selbstheilung in Gang kommen dürfte.

Welche Patienten könnten möglicherweise von der Entwicklung der Autovakzinen oder anderer Verfahren profitieren? Die Heidelberger Wissenschaftler haben ein recht breites Spektrum chronischer Infektionen im Visier. "Beim Menschen könnte sich der Einsatz auf chronische Infektionen des Harntrakts und der Atemwege sowie andere Hauterkrankungen wie Akne erweitern", erklärt Dr. Nolte.

Ansprechpartner:
Dr. Oliver Nolte:
06221 / 561984 (Tel.), Oliver_Nolte@med.uni-heidelberg.de (Email)

Weitere Informationen im Internet:
* http://www.autovaccine.de/
* http://dbs.cordis.lu/cordis-cgi/srchidadb?ACTION=D&SESSION=243422003-5-15&DOC=1&TBL=EN_RTDN&RCN=EN_RCN_ID:767&CALLER=CORDISwire
* http://www.euro-atvocard.de/
* http://www.olivernolte.de/


Hält fast allen Antibiotika stand: Bakterienkultur mit multiresistentem Staphylococcus aureus (MRSA).

Hält fast allen Antibiotika stand: Bakterienkultur mit multiresistentem Staphylococcus aureus (MRSA).

Foto: Medienzentrum Universitätsklinikum Heidelberg.